"Die Klassentreffen"
Es kam, wie es kommen musste. Das erste Mal nach zehn Jahren, dann nur mehr in unregelmäßigen Abständen, mit immer weniger Personal (schüler- und lehrermäßig), bis es auch - coronabedingt - ganz einschlief: das obligate Klassentreffen, Gegenstand vieler (schwarzer) Komödien und Erzählungen. Dazu muss ich auch meinen Senf abgeben. Unbedingt. Ich bin tief im Inneren schwarzhumorig. Wie gesagt, nach zehn Jahren flatterte die erste Einladung (noch über Briefpost) ins Haus, gefürchtet wie erwartet gleichermaßen. Wer kam, wer drückte sich, wer war inzwischen zum Generaldirektor aufgestiegen oder fuhr einen Bonzen Mercedes? (Hallo, lieber Volksschulkollege, du bist mir noch einen roten BMW schuldig :))
Etwas zitternd begab man sich zum vereinbarten Treffpunkt. Sah man noch jung genug aus? Etwa verbittert? Wie viele Kinder hatte man vorzuweisen? Erschien der Lehrkörper wenigstens spärlich? Oder überhaupt nicht? Zur allgemeinen Verwunderung erkannte man sich gegenseitig noch, auch vom Französisch-Pädagogen und vom KV, der jedoch alsbald die Flucht ergriff. Das Trauma, das seine Klasse hinterlassen hatte, wirkte anscheinend immer noch. Der gut aufgelegte franz. Pädagoge, der neben mir saß, lobte meine damals entsetzliche Föhn-Frisur, und dass ihn erfreute, was er sah (meinte er vielleicht die Kollegin hinter mir??). Ich wurde wie immer verlegen um eine Ausrede (welche mir stets im Nachhinein schießen).
Wir ehemaligen Schüler mussten uns gegenseitig vorstellen, was furchtbar peinlich war, denn ich hieß immer noch Bowman, und meine ehemals beste Freundin war gerade schwanger, worauf wir alle ehrfurchtsvoll schwiegen.
Das zweite, mir erinnerliche Treffen war kaum weniger unangenehm, einige waren inzwischen aus dem Leim gegangen, andere trugen seltsame Langhaarfrisuren (müssen Biologen immer so verschroben aussehen?), ein paar waren ergraut, fast alle furchtbar erwachsen und gesetzten Auftretens. Die Streber hatten es inzwischen zu Rechtsanwaltskanzlei und Mitarbeit im Patentamt geschafft oder gar in die Politik und Ärzteschaft.
Ich war eine von zwei Unverheirateten, und ich versank vor Scham in den Boden.
Ich kam mir unreif, kindisch, aber als einzig verbliebene Erklärung künstlerisch vor (man verzeihe mir die Anmaßung), und Künstler bleiben ja bekanntlich immer irgendwo kleine Kinder, sonst wären sie keine. Ich musste irgendwo zwischen Abi und Uni steckengeblieben sein, mir war auch noch nicht klar, worin meine Künstlerschaft bestand.
Eingeschüchtert, erleichtert oder auch ein wenig gefühlsduselig trat man den Heimweg an, versprach, sich telefonisch zu melden (wohin das führt, weiß man.. nämlich zu gar nichts).
Meine Schulbank-Kollegin, auf die man sich schon immer nicht verlassen konnte, entschwand Richtung Süden zu ihrem Angetrauten und meldete sich 20 Jahre nicht mehr. So ist das mit Klassentreffen.
Das Aufwärmen alter Geschichten mag vielleicht lustig sein, aber ich hatte eher nicht den Eindruck. Man war acht Jahre lang gezwungen gewesen, mit Menschen auf engstem Raum den größten Teil des Tages zu verbringen, ob man sie mochte oder nicht. Diesen oder zumindest einigen davon wieder zu begegnen, war relativ anstrengend.
Andererseits fühlte man sich auch wie zu Hause in dem bunten Haufen, als wäre man noch der verschworene von damals. Klassentreffen sind so eine Mischung aus Verzweiflung, Peinlichkeiten und Erkenntnis, wie schnell die Zeit verflog.
Vielleicht meiden darum bis heute viele ehemalige Schüler und Lehrkörper diese Veranstaltungen, ich muss gestehen, ich bin bei der letzten auch nicht mehr erschienen.