ein Märchen mit historischem Hintergrund in Briefform
“Chiemgau, im Sommer 1900....
...Endlich, endlich sehe ich meine geliebte Fraueninsel wieder! übergesetzt von vier wackeren und kräftigen Mannsbildern lasse ich mit jedem Ruderschlag ein Stück der schnöden und gemeinen Welt zurück. Gekleidet in Zivil, möchten meine Begleiter wohl vermuten, eine vornehme Dame besuche das Kloster der Heiligen Irmgard, denn ich trage einen vornehmen Hut mit schwarzem Spitzenschleier, den ich zur Feier des Tages und entgegen aller Klosterregeln angelegt habe.
Sehr unkonventionell, wie mir manch heimliche Seitenblick bestätigt, muss meinen Begleitern auch anmuten, dass ich nach einiger Zeit mein Haar gelöst habe und es im Fahrtwind flattern lasse. Das Dahingleiten des Bootes und leises Plätschern der Wellen steigern meine Vorfreude und meine innere Ruhe in demselben Maße. Ich lasse eine Hand ins Wasser gleiten und spüre, wie die Kühle sie umschmeichelt, beobachte dann und wann einen schimmernden Fischschwarm auftauchen und lausche dem Klageruf vereinzelter Möwen.
Nach dem herzlichen Empfang durch meine Schwestern in Christo streife ich meinen Nonnenschleier über und begebe mich zu einem spartanischen Mahl ins Refektorium. Später, die Insel ist auch in gemächlichem Tempo bald umrundet, sitze ich ganz unklösterlich mit bloßen Füßen an meinem geliebten Steg und baumle mit denselben und meiner Seele. Ein Bildnis der Abgeschiedenheit und des Friedens bietet sich mir, das nicht einsam macht, sondern göttlich die Seele erhebt.
Mein lieber Rupert, wenn ich so vor mich hin spaziere, denke ich, alles Ungemach der Welt ist so fern, hier die weltabgewandte Nüchternheit der Zelle, die Geborgenheit der dicken Mauern, schlicht und ohne weltlichen Ballast, dort die Weite des schillernd blauen Chiemsees, schier unendlich wie ein Meer und doch sicher eingebettet in fernes Gebirge; so weiß ich die Nähe von Herrenchiemsee mit seinem Schloss und herrlichen Park umso mehr zu schätzen. Meine über alles geliebten schwarzen Rösser stehen dort bereit, dazu eine Kutsche, in der es sich vortrefflich von Nord nach Süd und West nach Ost reisen lässt, und ich möchte den betörenden Duft von Seetang, Pferd und ledernem Zaumzeug nicht missen und dazu das fröhliche Hufgeklapper.
Rupert, hier bin ich angekommen, und unser Bruder im Geiste, Ludwig, ist mir so nah wie sonst nur auf seiner Gralsburg. Wenn ich am Schloss vorbeikomme, legt sich oft scheinbar wie aus dem Nichts ein dichter Schleier über die Insel wie der Nebel aus Avalon, der sich vor mir teilt, während die Kutsche die lange Anfahrt zur Empfangsstiege erklimmt, und die breiten Kruppen der Rösser stetig auf- und ab wippen.
Der Kutscher, ein gar urig bayerischer Gesell mit drolligem Akzent, lüftet seinen Hut, als sähe er den Geist Ludwigs umherwandern oder ein anderes Truggebilde, seine Sisi, in Schwarz majestätisch einherschreiten.
Gehab dich wohl, lieber Freund, es grüßt dich von Herzen und wünscht Dir Gottes Segen auf allen Wegen