... oder das Märchen von den zwei Schwestern
“So viele schöne, weiße Glöckchen”, summte die kleine Schwester “und duften tun sie auch, dabei könnte ich dich (und damit meinte sie ihre ältere Schwester) ganz schnell aus dem Weg räumen..” Sie bückte sich, um rasch einige Bärlauchblätter zu sammeln und um ebenso rasch den Wald wieder verlassen zu können, weil Bärlauch stank und ihr zuwider war.
Ihre besagte und gehasste Schwester war schön und beliebt, aber sie selbst war mit keinem der Vorzüge ausgestattet, und die Burschen liefen vor ihr davon, weil sie schiefe Zähne wie ein missratenes Kaninchen hatte. Außerdem schielte sie ein wenig und war viel zu groß gewachsen und dünn für ihr Alter. Was nützte es ihr, wenn sie hundert Mal gescheiter war als die Schwester, die Burschen sahen nur, was sie sehen wollten, und das war eindeutig. Sie verschwanden gerne mit der Älteren im Gebüsch, aber was dann geschah, wusste sie selbst nicht, aber es musste furchtbar weh tun, weil ihre Schwester dabei stöhnte und schrie, und der Junge keuchte, als schleppe er zehn Kartoffelsäcke. Warum lief die Schwester nicht einfach davon, sondern machte dem Jungen noch schöne Augen?
Sie seufzte abgrundtief, musterte mit ihren kurzsichtigen Augen den Waldboden und sammelte weiter, bis der Korb randvoll war. Immer wieder musste sie die niederen Arbeiten verrichten, und immer wieder verfluchte sie insgeheim ihre Schwester, die sich mit Ohrgehängen und schönen Kleidern ausstaffierte und nebenbei noch Vaters Liebling war.
Dann hielt sich die Jüngere erschrocken den Mund zu, weil sie wusste, dass Flüche gerne zurückkehrten, und sie wollte auf keinen Fall Teufelshörner, einen Klumpfuß oder schwarze Haare am Rücken oder Maiglöckchen-Suppe vorgesetzt. Noch schrecklicher war der Gedanke, sie könne sich in ein Insekt verwandeln, das vom Vater zertreten wurde, dann schlug sie hastig ein Kreuzzeichen, schalt sich eine eifersüchtige Kuh und rannte nach Hause, um nicht an verdächtigem Gebüsch lauschen zu müssen.
Die Mutter kochte ein feines Süppchen aus Bärlauch und Maiglöckchenblättern, da die schielende Tochter einmal daneben gegriffen hatte, unabsichtlich, wie sie später beteuerte. Doch die Dosis war zu schwach, sie rief lediglich arges Leibgrimmen hervor, und die Schwester lebte am nächsten Tag immer noch, nur mit roten, verquollenen Augen.
Was sie allerdings nicht ahnen konnte: jene hatte die verlockenden kleinen Maiglöckchen-Beeren im Vorjahr gesammelt und getrocknet und verabreichte sie ihrer jüngeren Schwester eines Tages zum Abendbrot, vermischt mit den ersten Erdbeeren, die zu dieser Zeit heranreiften und reichlich mit Zucker bestreut, damit sie den bitteren Geschmack nicht spüre.
Dann tat sie unschuldig und wartete, was geschah. Bis die Schwester sich ans Herz griff und umkippte, die Augen verdrehte und kurz mit den langen dünnen Beinen wie ein am Rücken liegender Käfer zappelte, dann mucksmäuschenstill da lag und sich auch nach einiger Zeit nicht mehr rührte. Da lachte die schöne Schwester und ging zum Nachbarsjungen, um sich des Nachts im Gebüsch zu vergnügen.