Imaginärer Brief der Raben-Oma
aus dem Insel-Kloster
“Meine liebe Tochter, ich sende dir und meinem Enkel vorab die besten Grüße von meiner geliebten Insel. Ich fühle mich sehr wohl, seit ich wieder hier gelandet bin, nach einer friedlichen Überfahrt mit unserem alten Kapitän Ludwig.
Ich hatte nicht vor, dich bloßzustellen, weil ich mich vor deinem blonden Mann im Keller fürchtete, nein, ich fürchte eher um sein Seelenheil und habe mich hierher zurückgezogen, um für dich und ihn zu beten, dass dich sein böser Dämon verschonen soll.
Seit er aus deinem Leben verschwunden ist, bin ich in Sorge, er könne meinen Enkel heimsuchen in der Hoffnung, ihn auf die dunkle Seite zu ziehen.
Ich fühle mich hier keineswegs einsam, wie du vielleicht vermuten würdest, und deinem seligen Vater hier mehr verbunden als auf dem Festland. Meine Unterkunft ist karg, ein Bett, ein Tisch, ein Kasten und ein Betpult. Aber mehr benötige ich nicht. Man hat mich von den Stundengebeten befreit, weil sie glaubten, ich sei zu gebrechlich und benötige ausreichend Schlaf. Jetzt aber weiß ich, warum.
Es ergab sich, da ich eines Nachts den Abort wegen eines größeren Geschäftes aufsuchen musste, da hörte ich gedämpftes Gelächter aus dem Lesesaal und wagte einen Blick durch den Spalt der angelehnten Tür, worauf es mir schier den Atem verschlug. Die älteste von allen war im Begriff, aus einer kleinen hölzernen Schachtel etwas an ihre Mitschwestern zu verteilen, was sich bei näherem Hinsehen als reines Teufelswerk entpuppte.
Im entstehenden Dunst, der sich den Weg durch den Spalt bahnte und mir Übelkeit verursachte, kicherten und scherzten die frommen Frauen und hatten sich teilweise ihres Schleiers entledigt, sodass ich ihre kurzgeschorenen Köpfe erblickte, teils ergraut oder sogar weiß, was ich sonst nie zu Gesicht bekam.
Schon erwartete ich schier das Erscheinen des Beelzebubes und schalt mich gleichzeitig meiner Neugier, denn ich hatte als fromme Witwe nichts um diese Zeit in den Klostergängen verloren, schließlich stand mir ein Nachtgeschirr zur Verfügung.
Als ich mich schließlich zurückzuziehen gedachte, klimperte mein Rosenkranz so laut gegen die Tür, dass ich meinte, all die kleinen Perlen würden über den Boden kullern und diesen Höllenlärm verursachen. Immer lauter und größer schienen die Perlen zu werden, aber wie festgefroren stand ich da und fand mich in meiner Kutte wie in einer Zwangsjacke…”
Ein entsetzter Schrei ließ die Rabenfrau auffahren. Verwirrt starrte sie in die flackernde Kerze neben ihrem Bett, auf das Buch, das ihr aus den Händen geglitten war und ihre zitternden Hände, bis sie sich sicher war, dass sie nur einem Alp zum Opfer gefallen war und das laute Kullern vom Klopfen an ihre Tür rührte. Der Rabenjunge war von einem bösen Traum erwacht und furchtsam zu seiner Mutter gekommen.
“Sag nicht, hat du etwa von Nana und einem seltsamen Brief geträumt, mein Junge.” wollte die Rabenfrau wissen.
"Und wenn doch?” entgegnete der Junge, noch immer weinerlich.
“Dann bist du unter ihrem Schutz, und kein vernebelter Dämon kann dir etwas anhaben,” sagte seine Mutter nun mit festerer Stimme.
“Dann will ich für Nana auch beten..” erklärte der Junge nach einer kleinen Pause.
"Amen”, sagte die Mutter.