Die Rabenfrau und ihr Sohn, ein Märchen
Ehe man den Jungen dazu bringen konnte, für ein Foto zu posieren, mussten allerlei Überredungskünste aufgeboten werden, schließlich sogar brachiale Gewalt, bis er schließlich einigermaßen fotogen, aber dennoch etwas verdrießlich mit der Kamera Kontakt aufnahm.
(wie auf dem Bild deutlich zu erkennen ist. So wie die Rabenfrau, die Fotografen mied wie der Teufel das Weihwasser, weshalb kein eindeutiges Bild von ihr überliefert ist).
Der Knabe zeigte sich widerspenstig in vielerlei Dingen: schon früh war ihm die Abneigung gegenüber Kindern seines Geschlechts und Alters anzumerken, vielmehr begeisterte ihn das Tragen von Mädchenkleidern, bevorzugt in Rosa und Purpur, sowie seine Vorliebe für Damen reiferen Alters und üppigen Formen, was sich im Laufe seiner Entwicklung noch zu verstärken schien.
Was soll ich mit diesen dürren Dingern anfangen, pflegte er zu maulen, wenn die Rabenfrau wieder einmal abgrundtief seufzte, weil er nur widerstrebend am Freudenhaus vorbeitrabte, die haben bloß Puppen und Schmuck und Kleider im Kopf, und sonst nichts. Nicht einmal einen gescheiten Hintern haben sie, fügte er etwas dezenter hinzu, und schielte auf die Rückseite der Rabenfrau.
Aber da war er schon älter und mit zartem Bartflaum behaftet, der zu seinem großen Ärger nur zögerlich spross. Er fürchtete sich vor Rössern, weil sie ihn bissen und weigerte sich, auf Bäume zu klettern, aus Angst, die Schwerkraft könne ihn zu Boden ziehen. So musste die Rabenfrau zur Erntezeit stets die missmutige Nachbarin um Rat und Hilfe bitten, bis jene sich mit Korb und Erntestangen in das Birnen-Gärtlein bemühte.
Die Rabenfrau ging gerne mit den Hühnern zu Bett, und es kostete sie einigen Aufwand, den Jungen von seinen Büchern loszureißen, auf dass er den Schlaf der Gerechten fand und nicht den der Nachtschwärmer, Taugenichtse und liederlichen Dinger.
Man munkelte im Dorf bereits, die Rabenfrau umgebe sich, wenn sie lange nicht das Haus verließ, bevorzugt mit unreifen Knaben oder schwarzhaarigen, blassen Frauen, die mit ihr das Lager teilten, am besten mit allen zusammen in einem wilden und unzüchtigen Reigen, weshalb die Rabenfrau noch missmutiger und verbitterter wurde. Wir sind eben nicht geschaffen für diese Welt, mein Junge, pflegte sie dann zu sagen, nicht für diese Welt und diese Gesellschaft. Aber er solle so gut sein, das nächste Mal nicht einen hastigen Abgang machen, wenn ihm ein Mädchen begegnete, das hinterließe wahrlich keinen besonders guten Eindruck. Dann solle sie nicht mit diesen weiblichen Lockenköpfen, die aussehen wie Mannsbilder, umherziehen, Studien, Tagebücher oder Chroniken über sie schreiben, stunden- und tagelang, auch das sähe etwas sonderlich aus, entgegnete der Junge boshaft.
Und so lagen sie sich oft tagelang in den Haaren, und wenn sie ihnen nicht inzwischen ausgefallen waren, tun sie es heute noch….